In Stuttgart ist der Wurm drin

Manfred Rommel hat früher gerne augenzwinkernd einen Witz erzählt, der von zwei Vögeln handelt, die über Stuttgart flogen. „Was für eine wundervolle Stadt“, sagt der eine. „Wieso“, fragte der andere. Da antwortet der erste Vogel: „Überall der Wurm drin!“ Wie sind wir jetzt gleich ins Plaudern gekommen? Ach ja: Stuttgart, unsere Landeshauptstadt, die Perle am Nesenbach!

Manfred Rommel, der legendäre Stuttgarter Oberbürgermeister alter Prägung, weilt längst im Himmel. Wäre er noch auf Erden und im Amt, würde Rommel diesen ironischen Witz vermutlich heute nicht mehr erzählen, denn tatsächlich ist in seinem früheren Zuständigkeitsbereich von oben betrachtet so sehr der Wurm drin, dass die Ironie im besten Wortsinn von der Wirklichkeit überflügelt worden ist. Seit Wochen häufen sich die Klagen über unhaltbare Zustände in der Stuttgarter Ausländerbehörde, die dramatisch unterbesetzt ist. Ein Drittel der dortigen Stellen ist vakant, der Krankenstand hoch. Täglich verschärfen sich in der Folge die unwürdigen Zustände vor der Behörde am Josef-Hirn-Platz. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger platzieren sich abends vor den Amtsstuben, um am nächsten Tag vielleicht noch einen Termin zu ergattern. Schlangen von mehr als 100 Meter Länge sind keine Seltenheit. Umliegende Bars werden von den Wartenden genutzt, wenn sie ihre Notdurft verrichten müssen. Die Industrie- und Handelskammer hat der Ausländerbehörde bereits ihre Hilfe angeboten, weil sich die Klagen von Unternehmen häufen, deren mühsam ins Land geholte Fachkräfte tagelang ausfallen, wenn sie von der Ausländerbehörde einen Stempel benötigen. Tausende von Mails liegen unbeantwortet in den elektronischen Postfächern der Stadt, vor der Behörde spielen sich Szenen ab, die man im Kosovo oder im Kongo erwarten würde, nicht aber im wohlhabenden Stuttgart.

Oberbürgermeister Frank Nopper galt früher in Backnang als ein hemdsärmelig Rathauspolitiker, der sich den Dingen des Alltags im Sinne der Bürger annahm. Die Zeiten haben sich geändert, und vielleicht auch die Dimensionen. Nopper gilt heute so manchem Stuttgarter Bruddler als ein Rathauschef, der sich weniger inhaltlich als medial in Szene zu setzen vermag, wobei auch die Gattin gerne und oft mit von der Partie ist. Wird ihm das gerecht? Jeder tut für den eigenen Ruf, was er tun kann. Früher gab es einen Torhüter beim FC Bayern, der Pfaff hieß. Er machte besonders schöne Paraden, auch wenn der Ball am Ende nicht immer zwischen seinen Händen, sondern mitunter auch im Netz landete. „Jean-Marie spielt für die Galerie“, hieß es scherzhaft über den Belgier. Vielleicht spielt Frank Nopper, der in Backnang ein überaus erfolgreicher und bürgernaher Verwaltungschef war und seinen Laden im Griff hatte, in diesen Tagen ein bisschen zu sehr für die Galerie und ein bisschen zu wenig für die Menschen, die dort unten in der Schlange stehen. Natürlich ist ihm das allein bei weitem nicht anzulasten. Auf die Idee, Verwaltungsleute aus anderen Abteilungen an den Brandherd zu versetzen, ist Nopper längst gekommen. Doch schon warnen Kritiker, der Schuss könnte nach hinten losgehen und so mancher Stadtbedienstete in Erwartung der Abordnung schon auf halbem Wege zum nächsten Arzt sein, der ihn dann länger krank schreibt. Und nicht nur in Stuttgart, sondern auch in anderen Kommunen läuft nicht alles rund. Es ist gleichwohl die Dimension der Ohnmacht, die in Stuttgart vor der Ausländerbehörde den Rahmen sprengt. Jene Verwaltungsleute, die dort noch ausharren, geben ihr Bestes. Aber es sind zu wenige. Und so leicht lassen sich Kolleginnen und Kollegen heute offenbar im Dienst der Notwendigkeit nicht mehr versetzen. Das ist ein gesellschaftliches Problem. In so mancher Verwaltung gibt es Bedienstete, die alles für die Menschen in ihrem Zuständigkeitsbereich geben. Es gibt aber auch jene, die sich zunehmend gestört fühlen von denen, für die sie da sein sollten, also von den Bürgerinnen und Bürgern. Das kann nicht im Sinne des Rathaus-Erfinders sein. Würde sich beim Daimler ein Mitarbeiter weigern, an einer bestimmten Modellreihe zu arbeiten, weil es dort besonders stressig ist? Der Mann könnte seine Papiere holen. In der deutschen Bürokratie sind mittlerweile teilweise unhaltbare Zustände eingetreten, orchestriert von gefürchteten Personalvertretungen, die das übergeordnete Wohl nicht mehr wirklich im Blick haben. Wofür ist das Rathaus doch gleich da? Für die Menschen in der Stadt und also auch für jene, die in der Schlange vor der Ausländerbehörde stehen! Das, was sich in dieser reichen und toleranten Stadt abspielt, ist ein Zeugnis bürokratischen Scheiterns und geistiger Unfreiheit. „Frei zu sein bedeutet nicht nur seine eigenen Fesseln zu lösen, sondern ein Leben zu führen, das auch die Freiheit anderer respektiert und fördert.“ Ein kluger Satz. Er stammt von Nelson Mandela und würde sich gut machen am Portal der Stuttgarter Ausländerbehörde.

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