Spiegelbild der Gesellschaft

Es macht wenig Freude in diesen Tagen, deutsche Leichtathleten bei der Ausübung ihres Sports zu beobachten. Die Leichtathletik-WM ist zu Ende und es gab keine einzige deutsche Medaille. Ein Novum. Verbandspräsident Jürgen Kessing, nebenbei Oberbürgermeister in Bietigheim-Bissingen, ist um sein Amt nicht zu beneiden. Vermutlich werden Berge von Briefen bei ihm eingehen, in denen Fans dieses Sports zum Besten geben, dass sie sich ein bisschen wundern, wie es passieren konnte, dass buchstäblich fast alle Nationen an uns vorbeigezogen sind. Schon bei der vorigen WM hatte es nur zwei Mal Edelmetall für die Deutschen gegeben, was einen historischen Tiefpunkt markierte. Jetzt gab es keinen einzigen Podestplatz für das 70-köpfige deutsche Team. Das ist bitter. „Wir sind nicht hierhergekommen, um wieder mit leeren Händen nach Hause zu gehen“, sagte Kessing. Am Ende blieben doch nur leere Hände.

Wie sind wir jetzt gleich ins Plaudern gekommen? Ach ja: das Thema Leistung. Auch wenn es vielleicht eine etwas unbequeme These ist, so lässt doch nicht ganz von der Hand weisen, dass Deutschland nicht nur in der Leichtathletik den Anschluss verloren hat. Klar, die anderen schlafen nicht, die Konkurrenz ist breit aufgestellt. Aber wie sieht es eigentlich mit unserer Mentalität aus? Wieso nehmen wir das einfach so hin? Gewiss, wir strengen uns an. Aber reicht das, um ganz vorne dabei zu sein? Könnte es sein, dass sich unser Anspruch an uns selbst verändert hat? „Ziele nach dem Mond“, lautet ein altes Sprichwort. „Auch wenn du ihn verpasst, wirst du immer noch zwischen den Sternen landen.“ Zielen wir noch nach dem Mond? Oder schauen wir eher auf die berühmte Life-Work-Balance und im Zweifel auf einen Staat, der uns bis hinein in den letzten Winkel versorgt? Es stehen große Aufgaben an. Wir werden sie eher nicht mit durchschnittlichem Engagement bewältigen. Es braucht dafür nicht weniger, sondern mehr Leistung. Und es braucht einen offenen Blick. Wir sind nicht allseits spitze. Wir tendieren vielseits zum Mittelmaß!

Die Teamkapitänin des deutschen Leitathletik-Teams, Gina Lückenkemper, sagte nach dem enttäuschenden Abschneiden der Mannschaft: „Wir haben hier im deutschen Team wirklich schon sehr, sehr gute Leistungen gesehen, die aller Ehren wert sind. Und das würde ich auf keinen Fall unter den Tisch kehren.“ Das mag wohl sein, allerdings haben diese „sehr, sehr guten Leistungen“ oft nicht einmal bis ins Finale gereicht und am Ende gab es keine einzige Medaille. Das ist ungenügend! Punkt. Das sollte man durchaus so klar benennen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen in diesem Land nicht nur in der Leichtathletik auseinander. Fußball international, Frauen wie Männer – Mittelmaß. Bildungsrepublik Deutschland – Mittelmaß. Digitalisiering – Mittelmaß. Elektromobilität – Mittelmaß.
Auch der Titel „Export-Weltmeister“ ist futsch und bei den Klimazielen hinken wir trotz grüner Regierungsbeteiligung den Vorgaben weit hinterher. Das zu lesen (und zu schreiben) ist nicht wirklich schön. Es ist aber ein erster Schritt, sich bewusst zu machen, wo wir stehen und damit aufzuhören, uns mit den Meriten der Vergangenheit zu schmücken oder uns auf ihnen auszuruhen. Ex-Fußball-Weltmeister. Ex-Export-Weltmeister. Davon kann man sich nichts kaufen. Es gibt Milliarden von Menschen, die jeden Tag aufstehen, um voran zu kommen. Es ist deshalb an der Zeit, wieder vorne mitspielen zu wollen und dafür auch mehr zu tun. „Man sieht oft etwas hundert Mal ehe man es zum allerersten Mal wirklich sieht“, hat Christian Morgenstern einmal geschrieben. Genug gesehen. Vielleicht ist es an der Zeit, wieder öfter anzutreten mit dem klaren Anspruch, Titel zu holen. Weniger zu wollen, heißt den Boden bereiten für Mittelmaß.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert