Der Mensch neigt zum Streit, gerade auch in der Zweisamkeit. Vor zwei Jahren hat eine Online-Partnervermittlung eine Umfrage in Auftrag gegeben, an der mehr als tausend Personen teilgenommen haben. Das Ergebnis: bei fast zwei Drittel der deutschen Paare kommt es mindestens einmal im Monat zum Streit. Das geht vermutlich schon länger so. Vor 200 Jahren hat der gute alte Schopenhauer lustvoll von der „geistigen Fechtkunst zum Recht behalten im Disputieren“ gesprochen. Und mit dem Recht behalten ist das in Beziehungen noch immer eine schwierige Sache. Wie sind wir jetzt gleich ins Plaudern gekommen? Ach ja: das Betrachten der Wirklichkeit aus unterschiedlichen Standpunkten!
Dazu fällt mir eine Geschichte von Jorge Bucay ein, die mit einer Ente beginnt, welche vier Eier gelegt hat. Während sie noch brütete, schlich sich ein Fuchs ans Nest heran und tötete die Ente. Bevor er die Eier auffressen konnte, wurde er gestört und suchte das Weite, die Eier blieben allein im Nest zurück. Zufällig kam eine Bruthenne gackernd vorbei und entdeckte das verlassene Gelege. Instinktiv setzte sie sich darauf, um die Eier auszubrüten. Es dauerte nicht lang, da schlüpften die Entenküken aus und selbstverständlich hielten sie das Huhn für ihre Mutter und spazierten bald in einer Reihe hinter ihm her. Die Henne, stolz auf ihre jüngste Brut, nahm sie mit zum Bauernhof. Jeden Morgen nach dem ersten Hahnenschrei begann Mama Henne auf dem Boden zu scharren, und die Entlein zwangen sich dazu, es ihr gleich zu tun. Da es den Entlein nicht gelingen wollte, auch nur einen einzigen Wurm aus dem Boden zu picken, versorgte die Mama sämtliche Küken mit Nahrung. Sie teilte jeden Regenwurm in Stücke und steckte sie ihren Kindern in die breiten Schnäbel.
Tag für Tag ging die Henne mit ihrer Brut rund um den Bauernhof spazieren. Diszipliniert und in Reih und Glied folgten ihr die Küken. Als sie einmal am See angekommen waren, warfen sich die Entlein gleich ins kühle Nass, als hätten sie nie etwas anderes getan, während die Henne verzweifelt am Ufer gackerte und sie anflehte, aus dem Wasser zu kommen. Munter planschen die Entlein umher, und ihre Mutter flatterte nervös mit den Flügeln und heulte aus Angst, sie könnten ertrinken. Vom übermütigen Gegacker der Henne angelockt, erschien der Hahn und schimpfte: „Auf die Jugend ist kein Verlass. Leichtsinnig wie sie nun einmal ist.“ Eines der Entenküken, das den Hahn gehört hatte, schwamm zu ihnen ans Ufer und sagte: „Gebt uns nicht die Schuld an eurem eigenen Unvermögen.“
Die Moral von dieser Geschichte könnte so manchen Streit in der Partnerschaft erübrigen: Nicht die Henne hat falsch gehandelt, auch nicht der Hahn. Und die Enten sind auch nicht im Unrecht. Keiner von ihnen ist im Irrtum. Sie betrachten nur jeder für sich die Realität von unterschiedlichen Standpunkten aus. Die große Falle ist, zu glauben, dass der eigene Standpunkt der einzige sei, von dem aus man den unverstellten Blick auf die Wahrheit habe. Von da aus ist es nicht mehr weit zum Recht haben wollen, und dann ist es oft nur noch ein kurzes Stück zur Trennung. Dabei können Enten mit Hühnern ganz gut – und auch umgekehrt. Wenn sie nur wollen und ihre Perspektive verändern.
So ist das mit den Perspektiven. Gute Geschichte zur Verdeutlichung und Überdenken der eigenen Einstellung. Dabei könnte eine Beziehung – welcher Art auch immer – sehr einfach sein.
Chapeau.