Liebe Lesende,
ist es nicht seltsam, welche Wirkung das eigene Spiegelbild entfalten kann? Wir sehen darin, was wir sehen wollen, und manchmal sehen wir, wie wir nicht sein wollen. Allein schon die Vorstellung, dass uns jemand beobachten könnte, und sei es durch einen Spiegel, beeinflusst unser Verhalten signifikant. Bei Versuchen wurde festgestellt, dass an freiwilligen Zahlungsstellen wie an Zeitungsständern oder an Blumenfeldern, an denen es auf die Ehrlichkeit der Kunden ankommt, die Zahlungsmoral deutlich steigt, wenn dort einfache Spiegel aufgestellt sind. Man sieht sich selbst nicht gerne schummeln und besinnt sich womöglich im eigenen Angesicht darauf, dass es doch besser wäre, sich anständig zu verhalten. Scham kann hilfreich sein.
Vielleicht sollte an jedem Rechner künftig werksseitig ein kleiner Spiegel angebracht werden, auf dass sich die Kommunikation der Gegenwart ein wenig verbessert. Da ist noch deutlich Luft nach oben. Müssten sich die Verfasser anonymer Online-Hetze mit ihrem wahren Gesicht auseinandersetzen, das ihnen der Spiegel offenbart, wenn sie Parolen, Beleidigungen, Drohungen und Beschimpfungen absondern, könnte das durchaus Wirkung entfalten. Es herrscht Handlungsbedarf. Immer mehr Verfasser von Kommentaren und Nachrichten lassen ihrer Wut freien Lauf im scheinbar sicheren Netz. In der Folge wenden sich immer mehr Menschen wegen aggressiver, verachtender oder beleidigender Online-Beiträge an die Meldestellen. Früher haben die Leute bei Frust Holz gehackt. Heute hacken sie Buchstaben. Ihren Hasskommentaren schenken Sie anonym im Netz die Freiheit. Dafür bekommen Sie dann oft auch noch unglücklicherweise Applaus, weil sie ihre Ansichten häufig dort platzieren, wo sie Gleichgesinnte vermuten. Das nennt sich „Echokammer-Effekt“. Geboostert wird er durch angeblich „soziale“ Medien, die diesen Mist oft auch noch ungefiltert verbreiten, statt ihn mit der Höchststrafe zu bedenken, der missbilligenden Missachtung.
Womit wir bei den Medien wären, deren Verantwortung darin liegt, jeden Tag aus den Zutaten der Welt ein Menü zu machen, das sie servieren können. Das ist kein einfacher Job. Immer häufiger allerdings wird dem Publikum jenseits der schweigenden Mitte nach dem Mund gekocht. Das ist nicht die Aufgabe! In modernen Großküchen, die News-Rooms heißen, werden allerlei Zutaten von Journalisten verarbeitet, die sich schon lange nicht mehr erlauben, selbst zu schmecken und zu riechen. Nicht alles ist dabei verdaulich. Zu oft wird nicht mehr für die Mehrheit gekocht, sondern für jene, die besonders laut schreien, was sie mögen und was nicht.
Neuerdings machen einige irrgeleitete Meinungsmacher auf seltsame Weise selbst Meinung, indem sie ihr eigenes Gemüse fabrizieren. Beispiel gefällig? Redakteur S. von einer angesehenen Tageszeitung schreibt anonym zu einem Thema, das ihn persönlich betrifft, und stellt den Beitrag ins Netz. In der Redaktionskonferenz verweist er auf jenen Beitrag, den viele bereits geteilt hätten. Ältere Kollegen, die beruflich anders sozialisiert worden sind, wenden ein, dass es sich doch um eine anonyme Quelle handele. Redakteur S. kontert mit einem Satz, den man heutzutage gerne und oft in den Redaktionskonferenzen hört: „Aber das ist doch auf dem Markt, da können wir nicht umhin!“ Am nächsten Tag steht das dann prominent in der Zeitung und ein paar Tage später bei wikipedia mit dem Hinweis auf das seriöse Blatt. Und der Redakteur S. kann sich freuen: er ist fürwahr ein Meisterkoch.
Durch sich immer weiter selbst bestätigende Milieus im Netz, durch Verabsolutierer der eigenen Realität, durch Scharfmacher, Zündler und nicht zuletzt durch Medien, die ihrem Auftrag nicht nachkommen, nimmt diese Republik zusehends Schaden. Die Kommunikationslinien der Corona-Leugner sind dafür gute Belege. Es ist nicht nur ihre Sache, es geht uns alle an. So wie uns alle angeht, wenn Intensivstationen überfüllt sind, Herz- oder Krebspatienten über Wochen auf OP-Termine warten müssen und Menschen ihre Liebsten nach einem Schlaganfall nicht besuchen dürfen, weil die Kliniken einen Besucherstopp verhängen mussten.
Könnte bei alledem ein Spiegel helfen? Der große Georg Christoph Lichtenberg, der es eher mit handfesten Sudelbüchern hielt als mit Online-Sudeleien, wäre wahrscheinlich skeptisch gewesen. Wenn ein Affe reinschaut, könne kein Apostel rausschauen, hat er sinngemäß gesagt. Ein Versuch wärs trotzdem wert. Womöglich käme der eine oder andere bei der Beobachtung seiner selbst ein wenig zur Besinnung in diesen besinnlichen Zeiten.
Schöner Text! Grüße
Dirk