Es gibt eine Geschichte, die gerne erzählt wird, wenn es um die Frage geht, ob es besser ist, auf Pfaden unterwegs zu sein, die mit guten Wegweisern versehen sind oder auf solchen, die ins Neuland führen. Die Geschichte handelt von einem jungen Mädchen aus den Bergen, das eines Tages ihr Heimatdorf verließ, weil es den Traum hatte, ans Meer zu gehen. Dies war der Traum ihres Lebens. So verabschiedete sie sich von ihren Eltern und ging den Weg hinunter ins Tal. Auf ihrem Weg begegnete sie Menschen, die ihr davon abrieten, weiter zu gehen, denn zum Meer sei es noch lange hin und beschwerlich. Eines Tages kam sie müde an eine große Wegkreuzung und konnte sich nicht mehr entscheiden, weiterzulaufen. An der Kreuzung standen ihr vier Wege zur Auswahl. Jeder führte in eine andere Richtung ins Ungewisse. Weil sie keinen Wegweiser hatte, erschöpft war von den entmutigenden Stimmen der Passanten und sich nicht entscheiden konnte, kehrte sie um und verbrachte in ihrem Dorf die meiste Zeit ihres Lebens damit, das zu tun, was andere ihr vorgaben. So zogen viele Jahre im Bergdorf ins Land. Als sie bereits eine betagte Dame war, machte sie sich ein letztes Mal auf den Weg zum Meer. Wieder kam sie nur bis zur großen Kreuzung und wusste nicht, welchen Pfad sie nehmen sollte. Da entschloss sie sich ins Gebirge hinaufzusteigen, um von oben sehen zu können, was dahinter verborgen lag. Der Pfad auf die Bergspitze war für die alte Frau sehr anstrengend und nur mit allerletzter Kraft kam sie ganz oben an. Sie wusste, dass sie zu schwach war, jemals den Weg weiterzugehen. Von dort oben konnte sie die vier Wege sehen. Und sie erkannte zu ihrem Erstaunen, dass alle irgendwann ans Ziel geführt hätten. Den Traum, eines Tages zum Meer zu kommen, konnte sie nicht mehr verwirklichen. Dabei wäre es so einfach gewesen. Sie hätte einfach nur weiter gehen müssen.
Wie sind wir jetzt ins Plaudern gekommen? Ach ja: Der Wunsch nach Wegweisern. So verständlich er ist, so sehr engt er uns manchmal ein. Wir gehen bei A los und folgen dem Wegweiser nach B. Das Schöne dabei ist, dass wir dort auch vermutlich ankommen. Allerdings liegt manchmal der Zauber im Umweg. Umwege sind auch Wege und manchmal führen sie geradewegs zum Ziel. Ein Plädoyer für mehr Mut zum Gehen auf neuen Wegen ist der Film Arthur & Claire, auf den ich neulich eher zufällig beim Zappen gestoßen bin. Er handelte von einer jungen Frau, die sich in einem Hotel das Leben nehmen will, weil ihre fünfjährige Tochter bei einer gemeinsamen Autofahrt, bei der Claire am Steuer saß, verstorben war. Im Hotelzimmer neben Claire wiederum bereitete sich Arthur darauf vor, am nächsten Tag in Amsterdam eine Sterbeklinik aufzusuchen, weil ihm Ärzte nur noch wenige Wochen gegeben haben. Claire hörte allzu laut Musik. Arthur beschwerte sich bei ihr. Am Ende speisten sie gemeinsam und zogen in Amsterdam durch die Nacht. Am nächsten Morgen steuerte Arthur zur Klinik, wie er sich das vorgenommen hatte. Vom Punkt A im Hotel zum Punkt B, dem finalen Moment. Auf dem Parkplatz vor der Klinik beschloss Arthur spontan, sich mutig auf eine Reise ins Ungewisse zu begeben. Er fuhr zurück, traf Claire und setze sich mit ihr in einen Bus, der zu einem Ort fuhr, den er nicht kannte. Arthur war bewusst geworden, dass er nur wenig zu verlieren, aber viel zu gewinnen hat. Ein Hoch auf die Arthurs und Claires dieser Welt. Ein Hoch auf den Umweg, auf den Schleichweg und auf den Schlenker.