Der Verrat der Lehrerin

Es gibt eine hübsche Geschichte, die von einem Jungen handelt, der zum Spielen an den Strand geht. In der Nacht waren bei einem Sturm tausende Seesterne angeschwemmt worden. In der Morgendämmerung lagen sie im nassen Sand und kämpften um ihr Überleben, während die Flut allmählich der Ebbe wich. Die Erwachsenen des Dorfes gingen traurig vorüber und schüttelten die Köpfe über so viel sinnloses Sterben. Der Junge rannte plötzlich zwischen den Seesternen umher, schnappte sich einen, warf ihn zurück ins Wasser und holte den nächsten und danach wieder einen. Schließlich kam ein Mann vorbei, der sich wunderte. “Junge”, sagte er traurig, “du kämpfst einen aussichtlosen Kampf. Schau nur, wie viele Seesterne hier herumliegen. Dein Handeln macht doch keinen Unterschied!” Der Junge hob den nächsten Seestern auf und warf ihn so weit hinaus ins Meer, wie er nur konnte. “Für DEN schon!”, sagte er.

Wie sind wir jetzt gleich ins Plaudern gekommen? Ach ja: den Unterschied machen. Das ist immer und überall möglich, auch im Krieg. Womit wir bei einer russischen Schulleiterin wären, die es buchstäblich in der Hand hatte, die Dinge im Kleinen zu verändern. Stattdessen hat sie bewusst die große Variante gewählt und das Leben eines ihr anvertrauten Kindes und eines Vogelzüchters namens Alexey Moskaljow zerstört. Der Fall schlägt gerade hohe Wellen in Russland. Vater Moskaljow war ins Visier der russischen Behörden geraten, weil seine 13 Jahre alte Tochter im Zeichenunterricht durch ein Antikriegsbild aufgefallen war, auf dem stand „Nein zum Krieg“ und „Ruhm der Ukraine“. Die Schulleiterin schaltete umgehend die Polizei ein, was zur Verhaftung des alleinerziehenden Mannes führte. Nun hat ein Gericht in Tula das Urteil gegen den 54-Jährigen bestätigt. Wegen „Diskreditierung der Armee“ muss er zwei Jahre in Haft, er darf zudem für die gleiche Zeit kein Internet nutzen. Moskaljow verlas vor Gericht einen Brief seiner Tochter Mascha, in dem das Mädchen schreibt, wie sehr sie ihren Vater liebt und vermisst. Er bat allen Ernstes im Gerichtssaal darum, ihn zur Todesstrafe zu verurteilen und das Urteil schnell zu vollstrecken, weil die Trennung von seiner Tochter für ihn unerträglich sei.

Die Geschichte vom Seestern sollte zur Pflichtlektüre werden im kriegstreibenden Russland. Der Schulleiterin wäre zu wünschen, dass ihr irgendwann bewusst wird, dass der falsche Mensch in diesem absurden Verfahren vor Gericht gestellt worden ist. Sie hatte eine Wahl und sie hätte einen Unterschied machen können. Stattdessen hat sie sich selbst als Denunziantin des Verrats schuldig gemacht – des Verrats an pädagogischen und menschlichen Grundwerten.

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