Die Sache mit der Tradition

Mein Onkel ist seit gefühlt 100 Jahren Fan des VfB Stuttgart. Er sagt, dieser Club sei ein Traditionsverein. Wenn man das von außen betrachtet, so gibt es in der Tat auch einige sehr spezielle Traditionen beim Club aus Cannstatt. So ist es zu einer unschönen Gewohnheit geworden, dass überall Graffitis in den traditionellen Vereinsfarben auftauchen, nicht selten aufgebracht von Aufgebrachten, so genannten Ultras, einer Gruppe entschlossener Zeitgenossen, die ihr Verständnis von Tradition auf Brücken, Schildern, Schaltkästen und manchmal auch auf Zügen zum Ausdruck bringen.

Fanforscher meinen, dass die Urheber dieser Hinterlassenschaften auf diese Weise ihr Revier markieren. Das mit dem Revier markieren, kenne ich, allerdings nur von meinem Hund. Tradition hat beim VfB auch, dass in der Club-Zentrale gerne und oft Schriftzüge auf Papier gemalt werden. Das passiert vor allem bei Verträgen mit Trainern. Die kommen häufiger an den Neckar und häufig gehen sie bald auch wieder. Vor zehn Jahren hieß der Trainer Bruno Labbadia. Jetzt heißt er wieder so. Allerdings blieb der Mann nicht zehn Jahre lang in dieser Position. Dazwischen zählte der VfB sage und schreibe 16 Trainer oder Interimstrainer. Auch das ist eine ziemlich imposante Tradition.

Tradition hat auch – und da ist der VfB in der Bundesliga keine Ausnahme – dass man sich schwerlich an neue Namen gewöhnt, weil die besten Spieler nicht selten im nächsten Jahr anderswo spielen. Dann schreibt die Presse ebenfalls sehr traditionell, dass es jetzt ein brisantes Duell sei, weil Spieler A schließlich letzte Saison noch beim Verein B gespielt habe, wobei man nicht sicher sei, ob er in der nächsten Saison beim Verein C kicken werde. Da lobe ich mir die Kreisliga. Da bleiben die Spieler länger. Neulich schaute ich in Ludwigsburg einer unscheinbaren Begegnung zu – und wurde dafür belohnt, weil dort wieder einmal der ursprüngliche Geist dieser Sportart spürbar wurde. Ein Schiedsrichter älterer Generation tadelte streng die Spieler, insbesondere die Vorlauten, um sie wenig später in einem weniger brenzligen Moment wieder abzuklatschen. So war dieses Spiel mal gedacht. Miteinander im Gegeneinander!

In der Bundesliga ist das alles ein bisschen größer – und ein gutes Stück entrückter. Der Mensch, so scheint es, hat Freude an solchen Arenen der Eitelkeiten, seit die alten Römer ihre üppigen Spiele veranstaltet haben. Manchmal freilich freut man sich als Außenstehender vielleicht auch nur darüber, dass es noch lichte Momente gibt, jenseits der üblichen Reviermarkierungen. So hat Jonas Hofmann, ein herausragende Spieler von Mönchengladbach, den viele Vereine gerne hätten, aufhorchen lassen. Als er im Herbst seinen Vertrag verlängerte und es mit einer Unterschrift besiegelte, verteilte er 258 Flaschen Wein an die Mitarbeitenden des Vereins. „Es war mir ein Anliegen, mich bei allen zu bedanken“, sagte Hofmann. Es sei nicht selbstverständlich, dass er hier spielen dürfe und mit 30 nochmals einen Vertrag bekommen habe. Was für eine schöne Geste. Könnte vielleicht mal eine nette Tradition werden.

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