Der Hunger hat Corona

Liebe Lesende,

zählen Sie doch bitte mal kurz bis 13. Das geht ziemlich schnell. Beängstigend schnell. 13 ist eine Zahl wie jede andere. Und doch auch wieder nicht. Alle 13 Sekunden stirbt auf dieser Welt ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Hunger. Alle 13 Sekunden!

Weltweit haben im Jahr 2020 mehr als 820 Millionen Menschen gehungert. Das heißt, jeder Zehnte leidet auf diesem Planeten an chronischem Hunger. Möglicherweise mag den einen oder anderen Leser dieser Zeilen angesichts solcher Fakten der Drang überkommen, die schwere Kost per Klick loszuwerden, wofür man durchaus Verständnis haben kann. Wir haben schließlich alle genug Probleme. Gasmangel, Krieg in der Ukraine und Corona. Da braucht kein Mensch, so könnte man denken, den mahnenden Zeigefinger, dass es im globalen Süden auch noch Hunger gibt.

Ich habe in meinem Leben nie wirklich an Hunger gelitten. Eher schon daran, dass ich mitunter ein bisschen zu viel gegessen habe und mir dann schlecht wurde. Nicht zu vergessen sind die Pfunde, die sich am Körper niederlassen und schwer versteckbar belegen, dass der Eigentümer des Gesamtkunstwerks gemessen an seinem persönlichen Energiebedarf tendenziell zu viele Kalorien zu sich nimmt. Ich glaube, unbändigen Hunger zu haben, ist fürchterlich. Nicht minder fürchterlich ist es, wie wir damit umgehen. Viele von uns schieben das Thema einfach weg. Man kann sich schließlich nicht das ganze Elend der Welt ans Bein binden.

Tatsächlich, so scheint es mir, ist das eine ziemlich begrenzte Reaktion. Die Dimension des weltweiten Hungers ist gewaltig – und hat sehr wohl mit jedem Einzelnen von uns zu tun. Was nutzt der vollste Kühlschrank, wenn es einem nicht mehr schmeckt, weil draußen vor der Türe Menschen stehen, deren Knochen hervorstehen, weil sie vor Hunger in die Massenflucht getrieben wurden und also jetzt hier eine bessere Zukunft suchen, weit entfernt von ihrer Heimat, und darauf pochen, dass wir unsere Kühlschränke öffnen? Das wird nicht passieren, mag der Optimist entgegnen. Na ja, beim Klimawandel sind ähnliche Strukturen sichtbar geworden. Wer behauptet, das alles habe nichts mit uns zu tun, der wird vielleicht demnächst nochmals ins Grübeln kommen, wenn er die verdorrten Pflanzen in seinem Garten ersetzt, die früher eigentlich jeden Sommer überstanden haben, oder den eigenen Keller betrachtet, in den sich der nächste Starkregen verirrt hat.

Mit Weg-klicken kommt man da nur bedingt weiter. Die Augen-zu-Mentalität wird übrigens, was ich ganz bitter finde, medial beflügelt. Wie sonst ist es zu erklären, dass 2020 in der Tagesschau, der wichtigsten deutschen Nachrichtensendung, insgesamt mehr als 3000 ausgestrahlte Beiträge aktenkundig sind, von denen sich gerade mal 9 (!) mit dem Hungerthema befasst haben. Dagegen waren es 1300 , die das Thema Corona zum Inhalt hatten. Wer nun die Zahlen der Toten addiert und zum Maßstab nimmt, wird leicht feststellen, dass der Hunger global betrachtet die weitaus größere Dimension hat. Doch der Hunger hat bei uns Corona – und also stirbt er den Tod der Nichtbeachtung.

Ich persönlich finde das unerträglich. So unerträglich wie die fachliche Unterscheidung von Hunger in „akuten“ Hunger, „verborgenen“ Hunger und „chronischen“ Hunger. Wetterextreme verstärken das, was schon früher immer wieder zu Hungerkrisen geführt hat. Dürren und Überschwemmungen zerstören Ernten, Kriege verhindern die Verteilung von Lebensmitteln. Hunger ist die Folge – eine Folge von ungerechter Verteilung. Wohl dem, der auf der richtigen Seite dieser Erde das Licht der Welt erblickt hat. Ein  Prozent der Weltbevölkerung besitzt dort fast die Hälfte des Weltvermögens und beschäftigt sich jedes Jahr im Frühling mit der nächsten Diät, um angefressene Speck-Kilos zu beseitigen.

Das alles ist Realität. Ich finde, wir sollten sie nicht wegdrücken. Das geht schon mit überschüssigen Pfunden nicht. Irgendwann braucht es die gesellschaftliche Magenverkleinerung. Der erste Schritt ist die Diskussion über das wahre Verhältnis der Dimensionen. Corona vor unserer Haustüre ist schlimm. Der Hunger in der Welt ist schlimmer.

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