für zwei Wochen war ich im Juli 2022 im Zeichen der Muschel unterwegs und die Erkenntnisse, die ich aus diesem mehr als 300 Kilometer langen „Camino“ für mich gezogen habe, sind höchst vielfältig. Aus meinen Aufzeichnungen ist eine kleine Serie von fünf Folgen über meinen persönlichen Jakobsweg entstanden. Folge 5:
Kopfstand in Santiago.
Meine Schuhe haben auf dem Jakobsweg einiges mitgemacht. Das Schuhwerk hier auf dem camino ist höchst unterschiedlich. Manche auf dem Weg tragen Sandalen, manche Wanderschuhe, die meisten leichte Turnschuhe. Fast jeder hat Blasen oder irgendwo eine Bandage. Ich traf einen Franzosen, der mit tiefblauen Zehen jede Etappe ging. Wenn man abends in den Gassen saß, konnte man die Blasen an den Füßen der Pilger sehen. Wer hier Pflaster und Tape anbietet, macht gute Geschäfte. Heute begegnete auf Hosé aus Madrid. Er wollte eigentlich aussteigen, hatte keine Kraft mehr. Wir waren in einem Hostel auf dem selben Stockwerk untergebracht. Ich ging mit Hosé essen. Und am Ende sagte er, er wolle doch noch eine Etappe laufen mit mir und vielleicht noch eine und vielleicht noch eine. Auch das ist der Camino. Begegnungen, die Dinge verändern. . Alles wahre Leben ist Begegnung. Der Satz stimmt von Martin Buber, einem Kirchenmann. Begegnung bereichert.
Das beste auf dem Weg, das sind die Menschen. Noah war einer von ihnen. Er war aus Amerika angereist, um den Jakobsweg zu gehen. Ich ging lange hinter ihm. Immer wenn Noah ein Stück Papier, dass jemand achtlos weggeworfen hatte, entdeckte, bückte er sich, hob es auf und steckte es in eine Tüte, die an seinem Rucksack angebracht war. Das hat mir imponiert. Wenig später kehrte wir zufällig gemeinsam ein und ich fragte diesen seltsamen Kauz, ob ich ihn auf ein Bier einladen dürfe. Noah freute sich und wir kamen ins Gespräch. Er erzählte mir von seiner Großmutter, die ihm einen Satz geschenkt hatte, der ihn weit weg von der Heimat stets auf dem Weg in Spanien begleitete. Seine Oma hatte gesagt: „Noah, verlasse jeden Ort, an dem du bist, möglichst ein kleines bisschen besser, als du ihn angetroffen hast.“ Was für ein toller Satz. Was für ein besonderer junger Mann, der die Welt tatsächlich auf seine Art ein bisschen besser machte. Nicht minder beeindruckt hat mich Bob. Der Rentner, der ebenfalls aus Amerika auf den camino gekommen ist, lief unglaublich langsam. Man merkte, dass es ihm schwer fällt. Er sah sich immer wieder zu Pausen genötigt. Bob ging auf seine Art. Fast jeden frühen Abend sah ich ihn am Zielort über die Straßen schleichen, während die meisten Pilger, die mit ihm gestartet waren, schon Stunden vor Ort weilten. „Hey Bob, ich bin stolz auf dich“, rief ich ihm zu. Und er antwortete: „Langsam, aber sicher!“ So hielten wir das immer wieder, Tag für Tag. Der Abend kam und mit ihm kam Bob des Weges.
Wir sollten alle mehr Bob und Noah sein. Das würde die Welt vermutlich ein kleines bisschen besser machen. Es ist Samstag geworden. Morgen fliege ich zurück. Heute laufe die letzte Etappe. Die Kathedrale von Santiago kommt in Sicht. Ich mache einen Kopfstand auf dem Pflaster. Das hatte ich mir vorgenommen für den Fall, dass dieser Weg meine Perspektive verändern würde. Er hat sie verändert! Ich zünde später in der Kathedrale eine Kerze an für alle, die ich vermisse und liebe. Diesen Weg werde ich nicht vergessen. Ich werde ihn weiter gehen, meinen ganz persönlichen camino. Hier wie dort. Schön, nicht mehr allein zu sein. Dieser einzigartige Weg hat mich mit mit mir selbst verschmolzen. Gracias. Buen Camino.