Camino 1: sehen, was ist

Liebe Lesende,

für zwei Wochen war ich im Juli 2022 im Zeichen der Muschel unterwegs und die Erkenntnisse, die ich aus diesem mehr als 300 Kilometer langen „Camino“ für mich gezogen habe, sind höchst vielfältig. Aus meinen Aufzeichnungen ist eine kleine Serie von fünf Folgen über meinen persönlichen Jakobsweg entstanden. Folge 1:
sehen, was ist.

Manchmal kommt es anders als man denkt. Kaum ging es los, waren die schönen Pläne dahin. Das Flugzeug von Mallorca nach Leon tat nicht, was es tun sollte: es hob nicht ab. Und also saß ich fest. Dabei hatte ich doch alles so schön organisiert. Und schon war ich mittendrin in der ersten Lehrstunde des Camino.

Irgendwie hat dieser seltsame Weg seine eigene Aura. Plötzlich kam da bei mir am Flughafen nicht die Frage auf, warum das jetzt hier nicht klappt, wie ich mir das ausgedacht hatte, sondern es kam eine ganz andere Frage auf: „Was ist stattdessen da. Und was ist überhaupt da?“ Diese Frage hat sich auf etwas seltsame Weise in mein durchstrukturiertes Leben eingeschlichen. Einfach so. „Sehen was ist!“ Je länger ich mir diese Frage gestattete, desto mehr bemerke ich eine Veränderung. Je mehr ich mich von dieser Fragestellung leiten ließ, desto zufriedener wurde ich am Flughafen ohne Flugzeug. Versucht man zu sehen, was ist, geht damit zwangsläufig einher, dass sich eine andere Frage, die uns oft bestimmt, in diesem Maße einfach nicht mehr so stellt, nämlich die Frage: was ist nicht da? Bis zu dieser Stunde am Flughafen war für mich oft irgendwas nicht da. Nun also fragte ich anders und legte mich auf zwei freie Stühle in der Halle. Ich bemerkte ein paar Spatzen, die sich in der Halle sehr wohl fühlten, weil sie die Krümel, welche die Fluggäste hinterließen, bestens brauchen konnten. Ein witziges Spiel, das ich sonst gar nicht bemerkt hätte. Es wurde ruhig in mir und ich fühlte mich ganz im Moment und bekam immer mehr Dinge vor Augen geführt, die einfach da waren. Ich war da, die Luft zum Atmen war da, ein Getränkeautomat war da. Und irgendwann würde bestimmt auch das Flugzeug nach Leon da sein.

Wie ich so darüber nachdachte, kam mir in den Sinn, dass es vermutlich auch für Beziehungen sehr hilfreich sein könnte, zuvorderst zu sehen, was ist und weniger im Blick zu haben, was nicht ist. Was hat er nicht oder was hat sie nicht? Dreht man die Fragestellung herum, so ergibt sich eine ganz neue Perspektive. Wie ich so sinnierte, wurde die Maschine startklar gemacht. So erreichte ich Leon doch noch an diesem Abend mit drei Stunden Verspätung und ich ging meine ersten Schritte auf dem Camino in die Nacht hinein. Da war ganz viel da. Einfach so. Der Jakobsweg entfaltet seinen Zauber folglich oft schon bevor man sich ihm wirklich nähert. Es werden auch noch andere Stunden kommen. Denke ich mir. Ich nehme mir vor, auch dann zu versuchen, die Frage anders zu stellen. Was ist da? Muskelkater, klar. Einsamkeit, ja. Aber auch noch ganz viel mehr. Sehen was ist – das macht Spaß. Buen camino.

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