Mein Hund, der Lehrer

Liebe Lesende,

die Zeit ist ein Strom, der uns Menschen vor sich herschiebt. Wohl dem, der sich ihr entgegenstellen kann. Der Dalai Lama ist so einer. Er wurde einst gefragt, was ihn am meisten an der Menschheit verwundert. Er antwortete: „Der Mensch opfert seine Gesundheit, um Geld zu verdienen. Wenn er es hat, opfert er es, um seine Gesundheit zurück zu bekommen. Er ist so sehr auf die Zukunft fixiert, dass er die Gegenwart vergisst. Das Ergebnis ist, dass er weder in der Gegenwart noch in der Zukunft lebt. Er lebt, als würde er nie sterben. Und schließlich stirbt er, ohne jemals richtig gelebt zu haben.“

Aber wie findet man zu diesem vermeintlich richtigen Leben? Eine gute Frage, auf die es vermutlich nur höchst individuelle Antworten geben kann. Ein guter Helfer auf dem Weg dorthin vermag nach meiner Erfahrung jemand wie Emma zu sein. Emma ist unser Hund. Wir haben sie seit fast sieben Jahren. Emma hat mich gelehrt, öfter stehen zu bleiben auf dem Weg, weil das Stehen bleiben und Nichtstun manchmal ganz schön viel „Tun“ ist. Neulich ist Emma wieder einmal stehen geblieben mitten auf einer Wiese. Es war um uns nur Gras. Ich dachte für einen Moment, dass da einfach Nichts ist und entdeckte plötzlich so viel in diesem Nichts. Die Grashalme waren total unterschiedlich und hinter einem besonders dichten Büschel lugte eine Schlüsselblume hervor. Ich hätte sie im Leben nicht entdeckt und mich an ihr gefreut ohne Emmas Intervention.

Emma ist ein reinrassiger „Alio“. Kennen Sie nicht? Kennen die Wenigsten! Das sage ich immer, wenn ich nach ihrer Rasse gefragt werde. „Alio“ steht für „all in one“. Eine Mischung aus Berner Sennenhund, Golden Retriever, Schäferhund und Border Collie. Das sind nur die bekannten „Zutaten“. Womöglich gibt es noch einige mehr. Ich habe Emma auf einem Bauernhof entdeckt und mich sofort in sie verliebt. Hätte ich sie nur schon früher gehabt und mich über Welpenerziehung eingelesen – vermutlich wäre ich meinen Kindern dann ein besserer Lehrmeister gewesen. Das Wundermittel der Hunde-Erziehung ist die positive Verstärkung, das unmittelbare Lob. Wenn ein Hund sich losreißt und über die Straße läuft und der Halter schreiend hinter ihm her, und der Hund dann irgendwann auf der anderen Seite stehen bleibt, nachdem er fast mehrere Karambolagen verursacht hätte, dann ist es tatsächlich geboten, ihn trotz alledem zu loben. Tadelt man ihn, denkt er: „Was hat der Typ eigentlich? Ich bin doch stehen geblieben!“ Dass er zuvor über die Straße rannte, hat er nicht mehr präsent, weil er alles, was drei Sekunden zuvor war, vergessen hat. Bei Emma habe ich das begriffen und so in ihr gute Anlagen geweckt. Wir sollten alle mehr loben und weniger tadeln.

Dies gilt vor allem, wenn es um junge Menschen geht. Der Unterschied zwischen Erziehung und Manipulation liegt darin, dass man seinen Kindern bei der Erziehung den unbedingten Glauben an sie vermittelt und ihnen dabei hilft, ihre Möglichkeiten zu sehen. Bei der Manipulation vermittelt man ihnen das, was man selbst oder was andere für angezeigt und wünschenswert erachten. Ich habe nicht zuletzt durch Emma erkannt, wie begrenzt ich oft in meiner Erziehung gewesen bin. Heute geht es mir nicht mehr so sehr um die Vermittlung von Wissen, sondern vielmehr um die Vermittlung einer Haltung. Für diese Erkenntnis, brauchte ich jemand wie Emma. Mein Hund ist ein herausragender Lehrer. Eigentlich sollte es umgekehrt sein. Nebenbei wirkt meine Wegbegleiterin auch noch blutdrucksenkend auf mich. Emma liebt Harmonie und sie hasst Streit und laute Worte. Sie bellt dann und wird unruhig. Ich möchte nicht, dass Emma bellt. Also belle ich auch möglichst nicht. Man kann die Dinge auch ruhiger angehen lassen. Und stehen bleiben, irgendwo im Nirgendwo, einfach so!

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