Narrenfreiheit im Fußball

Liebe Lesende,

zunächst möchte ich bekennen, dass ich Fußball mag. Ich habe in der Jugend selbst gespielt und es gab Zeiten, in denen zu Hause bei uns keine Sportschau verpasst wurde. Was der Fußball der Gegenwart allerdings aus sich macht, ist für mich schlicht eine Zumutung. Ich rede hier nicht von unverhältnismäßigen Ablösesummen und krummen Geschäften, sondern von Fans oder Ultras, die sich ganze Vereine untertan machen und Spieler in einer Weise demütigen, die wir gesellschaftlich nirgendwo sonst hinnehmen würden. Gewiss, der Profifußball macht schon länger auf Sonderrecht und scheut sich nicht davor, tausende von Fans ins Stadion zu lassen, während die halbe Republik Corona hat. Nicht minder schwer zu ertragen ist das, was jetzt im Derby zwischen Union Berlin und Hertha BSC passiert ist. Die Hertha spielte schlecht und verlor, was wiederum sogenannte Fans aus Enttäuschung veranlasste, die eigenen Spieler aufzufordern, das Trikot vor aller Welt auszuziehen. Die Akteure sind es in den Augen der Hertha-Anhänger nicht länger wert, das Vereinsemblem zu tragen.

Dies ist eine nicht hinnehmbare Demütigung von Menschen, die vielleicht gut bezahlt sind, aber eben trotzdem Menschen. Es ist ehrverletzend und einer Gemeinschaft wie der unseren schlicht unwürdig. Doch keine Zeitung regt sich darüber wirklich habhaft auf, keine Sportredaktion verlangt den Ausschluss aller Beteiligten für den nächsten Kick. Stattdessen arbeitet man sich in der benachbarten Politikredaktion lieber an der Bundesfamilienministerin Anne Spiegel ab wegen eines Frankreichurlaubs zehn Tage nach der Flutkatastrophe im Juli 2021. Frau Spiegel war damals rheinland-pfälzische Umweltministerin. Den Urlaub hatte sie ziemlich nötig mit vier Kindern und einem Mann, der gerade einen Schlaganfall erlitten hatte. Also war sie im politischen Tagesgeschäft trotz dieser Katastrophe nicht präsent. Egal. Der Rücktritt muss her. Eine mediale Ent-Spiegelung.

Abgesehen davon, dass ich mir keine Menschen in politischen Führungsämtern wünsche, die ihre Familie vor die Hunde gehen lassen und auch keine Parlamente voll kühler „Scholzomaten“ möchte, so ist es zunehmend schwerer erträglich, was den einen moralisch locker nachgesehen wird, während andere in einer Weise bewertet werden, die Maß vermissen lässt. Fußball ist eben anders als Politik. Oder doch nicht? Auch beim VfB in Stuttgart scheinen die Ultras mehr und mehr das Geschehen zu bestimmen. Der frühere Präsident Wolfgang Dietrich, ein Mann mit Visionen, wurde regelrecht gejagt von den Wutfans. Ihre verächtlichen Banner hingen an Brücken, auf denen der Präsident grafisch ins Visier genommen wurde. Am Ende ist er gegangen und jetzt gibt es einen neuen Präsidenten. Der lacht gerne und oft in die Kameras und ist deutlich mehr Freund der Ultras und deutlich weniger jener von Thomas Hitzlsperger, der ebenfalls den Dienst quittiert hat. Hitzlsperger war immerhin schon einmal Deutscher Meister mit dem VfB. Der neue Präsident ist ein anpassungsfähiger Mensch. Die Ultras mögen ihn. Er darf sein Trikot behalten. Der VfB ist wieder tief im Abstiegskampf. Der Präsident lächelt. Es ist zum heulen.

Fußball ist die schönste Nebensache der Welt. Sie sollte es möglichst auch bleiben. In letzter Zeit hat man leider immer öfter den Eindruck, dass der Fußball etwas „überirdisches“ für sich beansprucht. Wie die Messdiener in einem Gottesdienst kommen die gehuldigten Akteure, ähnlich dem Einzug in den Gottesdienst, in Zweierreihen auf den Platz und stellen sich dem Publikum. Es geht um Sein oder Nichtsein auf dem „heiligen Rasen“. Für die Sieger gibt es liturgische Gefäße, Pokale oder Schalen genannt, die hochgehalten werden wie die Monstranz bei der Fronleichnamsprozession. Der (Weih)-Rauch kommt aus den Bengalos und wenn es losgeht, verlangt die Gemeinde auf den Rängen nach höherem Beistand, während sich die Gladiatoren drunten auf dem Feld bekreuzigen, wenn sie das Tor geöffnet haben, das Tor zum Sieg. Doch wehe, wenn die Erwartungen der Obrigkeit auf den Rängen nicht erfüllt werden. Dann kommt der Ultra-Donner und die Spieler müssen sich die Trikots vom Leib reißen. Sie werden buchstäblich von der Masse exkommuniziert. Mal ehrlich, ist das der Fußball, den wir wollen? Ist das die Gesellschaft, die wir wollen?  Himmel hilf!

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