Achtsam für den Augenblick

Liebe Lesende,

manchmal streifen uns Momente, in denen sich vieles, wenn nicht sogar alles entscheiden kann. Plötzlich ist man elektrisiert und spürt in sich, dass dieser eine Wimpernschlag ein ganz Besonderer ist. „Der Augenblick ist jenes Zweideutige, darin Zeit und Ewigkeit einander berühren“, hat der dänische Philosoph Søren Kierkegaard einmal geschrieben. Für die amerikanische Schriftstellerin Maya Angelou wird das Leben nicht an der Zahl der Atemzüge gemessen, „sondern an den Momenten, die uns den Atem nehmen“.

Besondere Momente hatten auch schon die alten Griechen auf dem damals noch nicht vorhandenen Schirm. Sie hatten zwei Begriffe für das, was man Zeit nennt:  Chronos und Kairos. Als Chronos stuften sie jene Zeit ein, die ständig vergeht, woraus sich später auch der Chronometer ableitete, also die mechanische Uhr.  Kairos hingegen ist in der griechischen Mythologie der Gott der günstigen Gelegenheit, respektive des richtigen Augenblicks. Als jüngster Sohn des Zeus wurde Kairos, dargestellt mit einem kahlen Hinterkopf und langem Haarschopf zur Vorderseite des Kopfes, mit Flügeln an den Füßen, was für eine Schnelligkeit steht. Womöglich geht das Sprichwort „Die Gelegenheit beim Schopfe packen“ auf die Figur Kairos zurück. Man stelle sich den flüchtigen Gott vor, der plötzlich an uns Irdischen vorbeizieht, und wer schnell und klug ist, der hält ihn an seinem Schopf und nutzt die Gunst des Augenblicks. Manche erwischen allerdings nur den glatten Schädel und gehen somit Leer aus. Der Augenblick ist ungenutzt an ihnen vorbeigezogen.

Wir Heutigen neigen leider dazu, oft zu lange zu überlegen. Dann ist der Kairosmoment vorbei und wir haben eine Chance verpasst, sei es beruflich oder privat. Das wiederum könnte auch an Chronos liegen, der uns ständig beschäftigt und ablenkt vom Wesentlichen, so dass es uns an der nötigen Sensibilität für diesen einen besonderen Moment fehlt. Wer sich zum Sklaven von Chronos macht und die Uhr permanent im Blick hat, reibt sich in dem Versuch auf, die Zeit zu kompensieren. Wer eher Kairos zuneigt, der hat die Zeit und das Gespür, die es braucht, um den Zeitpunkt nicht zu verpassen, an dem sich eine Türe wahlweise öffnet oder schließt.

In unserem Alltag trägt Kairos mancherlei Gewänder. Er steht für die eine Sekunde, in der es beruflich Klick macht ebenso wie für die Liebe auf den ersten Blick, für einen Moment der Intuition, in dem wir das Lenkrad herumreißen und einen Unfall verhindern oder eben für eine besondere Begegnung, in der sich unser Herz öffnet. Es lohnt sich, dafür achtsam zu sein.  Wann das passiert, lässt sich schwerlich vorausahnen. Am ehesten, wenn man nicht auf die Uhr schaut. Denn das wahre Leben ist Jetzt. Alles andere hat Zeit.

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