Respekt vor den Besonderen

Liebe Lesende,

es gibt Zeiten, in denen besondere Menschen uns in besonderer Weise berühren, weil sie einen Unterschied machen und uns durch ihr Handeln vor Augen führen, was möglich ist, wenn wir unsere Perspektiven verändern. Dazu fällt mit die Geschichte von jenem Vater ein, der mit seinem fast schon erwachsenen Sohn im Zug unterwegs ist. Mit großen Augen schaut der Bursche immer wieder aus dem Fenster und fragt recht kindlich: „Papa, ist das eine Kuh?“ Der Vater antwortet ruhig und besonnen: „Ja, mein Sohn.“ Aufgeregt spricht der Teenager weiter: „Papa, diese Blume da draußen ist eine Sonnenblume, oder?“ Die Antwort lautet wieder: „Ja, mein Sohn.“

Es folgen bei der Zugfahrt viele weitere Fragen in dieser Art. Mal geht es um eine Tanne, mal um einen Berg oder einen Hubschrauber. Ein Fahrgast, der den beiden gegenübersitzt, schüttelt immer wieder den Kopf. Irgendwann platzt es aus ihm heraus und er spricht den Vater an: „Bei allem Respekt, das Verhalten Ihres Sohnes ist merkwürdig.“ Genervt weist der Fahrgast ob des stetig fragenden Teenagers darauf hin, dass es heutzutage doch sehr gute Kliniken für Fälle „wie diesen“ gäbe und die Medizin in alle Richtungen große Fortschritte mache. „Wie recht Sie doch haben!“, antwortet der Vater und fährt freundlich fort: „Von so einer Fachklinik kommen wir gerade. Mein Sohn hat vor zwölf Jahren sein Augenlicht verloren und kann seit wenigen Tagen wieder sehen.“ Sichtlich beschämt senkt der Fahrgast den Blick. Nach einer Weile wendet er sich dem Halbwüchsigen zu: „Junger Mann, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.“ Und schließlich sagt er noch: „Und ich möchte mich herzlich bedanken. Sie haben mir eben aufgezeigt, dass ich vieles Wertvolle im Leben gar nicht mehr wahrnehme, weil ich es für selbstverständlich gehalten habe.“

Eine besondere Geschichte ist das, die von besonderen Menschen handelt. Zu diesem Typus gehört gewiss auch Marina Owsjannikowa, jene Redakteurin des russischen Staatsfernsehens, die es neulich einfach satt hatte, durch Putins verordnete Brille schauen zu müssen. Mutig schlüpfte sie zur besten Sendezeit aus der Rolle der kremltreuen Fernsehsoldatin und schenkte einer besonderen Botschaft im russischen Staatsfernsehen die Freiheit, die weithin nachwirkte, weil sie über den linientreuen Sender Channel One, den reichweitenstärksten TV-Kanal des Landes, in vielen Wohnzimmern landete. Marina Owsjannikowa hob in der Hauptnachrichtensendung ein Protestplakat in die Kamera, auf dem stand: „Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen.“

Später verbreitete sich noch ein anderes Video, das Owsjannikowa vor ihrem TV-Protest aufgenommen hatte, in den sozialen Medien. „Wir, die russischen Menschen, können denken und sind klug. Es liegt nur an uns, diesen ganzen Wahnsinn zu beenden. Geht demonstrieren. Fürchtet nichts. Sie können uns nicht alle einsperren“, sagte darin die Redakteurin, der es vermutlich bald nicht viel besser gehen wird wie dem bewundernswerten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, dessen Haftstrafen auf Putins Drängen von russischen Kasperle-Gerichten ständig verlängert wird. Wahrlich besondere Menschen sind das, die uns eines lehren: in dieser Welt ist nichts selbstverständlich, weder der Mut einer Fernsehredakteurin noch die Standfestigkeit eines Andersdenkenden – oder die Kuh, an der irgendwo ein Zug vorbeifährt, in dem ein Junge sitzt, der plötzlich wieder sehen kann.   

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