Liebe Lesende,
was haben das Streifengnu, der Poitou-Esel und der Moschus-Ochse gemein? Sie sind durchschnittlich 1,50 Meter lang und verkörpern damit ziemlich genau den omnipräsenten Abstand dieser Zeit. Überall an den Geschäften und vor den Restaurants hängen Schilder, die uns raten, genau 1,50 Meter vom anderen entfernt zu bleiben, auf dass uns keine Viren erwischen. Vielen Menschen sind die Abstandsregeln ein Graus. Ihnen fehlt die Nähe, das Drücken, das Streicheln, der Hautkontakt. Ich gehöre zu dieser Gruppe. Und leide.
Wie das so ist in den Untiefen der inneren Welt, empfiehlt sich in solchen Fällen des Unmuts ein kleiner Exkurs zur hohen Kunst des Perspektivwechsels. Es kommt, einfach gesprochen, darauf an, der leidigen Sache einen neuen Aspekt einzuhauchen, in dem womöglich sogar ein Zauber wohnt. Schon eine kleine Veränderung unserer Denkweise kann erhebliche Auswirkungen auf unser Empfinden haben. Also mal überlegen! Prompt fällt mir die Geschichte vom kaputten Auto ein. Ein Ehepaar fährt auf der Autobahn, plötzlich platzt ein Reifen bei Tempo 160. Zum Glück funktionieren alle Sicherheitssysteme, derentwegen die beiden das Auto einst gekauft haben, der Wagen bricht nicht aus, die Airbags versehen ihren Dienst. Beide Eheleute bleiben unverletzt. Wenig später fallen sie sich im Abschleppwagen in die Arme. „Schatz, was hatten wir für ein Glück“, sagt er. Auf der Pritsche des Abschleppdienstes steht das geliebte Auto. Es ist reiner Schrott. Was soll’s, sagen beide. Alles gut.
Wechseln wir die Perspektive und lassen das Paar ein paar Wochen zuvor das geliebte Auto abends in der Stadtmitte abstellen, um ein bisschen Bummeln zu gehen. Bei der Rückkehr, gut gelaunt und mit reichlich Einkaufstüten in der Hand, schaut unser Paar plötzlich ziemlich bedröppelt drein, weil zwei Polizeiautos um den Wagen stehen, der nur noch Schrott ist, weil ein Lastwagenfahrer die Kontrolle über seinen Brummi verloren hat und ausgerechnet ungebremst in ihr Auto krachte, das ein bisschen schräg zur Fahrbahn stand. Was wäre dann die Reaktion gewesen? „Das ausgerechnet uns das passieren musste“, sagt er. „Warum hast du das Auto bloß so komisch abgestellt“, schimpft sie. Dabei ist das Ergebnis dasselbe. In beiden Fällen ist das Auto kaputt. Daraus lässt sich ein schlichter Schluss ziehen: wenn das Ereignis bleibt, was es ist, liegt es an unserer Denkweise, zu verändern, wie wir das Ereignis erleben. Anders ausgedrückt: wir können glücklicher werden, indem wir unsere Perspektive verändern und vielleicht ein wenig auf Abstand gehen.
Ist es uns möglich, abstrakter zu denken, reduziert sich auf wundersame Art häufig das Gefühl der Unmittelbarkeit des Problems. Dazu gibt es eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Befunden. So empfanden es Studierende bei einem Versuch leichter, eine Aufgabe zu lösen, wenn sie sich körperlich von ihr entfernten, indem sie sich beispielsweise nur in ihrem Stuhl zurück lehnten. Auch in der Beziehungswelt kann es durchaus empfehlenswert sein, auf Abstand zu gehen, wenn die Fetzen fliegen – und womöglich nicht nur sie.
Eine amerikanische Sozialpsychologin befragte 120 Ehepaare zwei Jahre lang alle acht Wochen zum Zustand ihrer Beziehung. Alle Probanden sollten jeweils auch Beziehungskonflikte schildern. Im Laufe der Zeit gaben die Teilnehmer ihrer Partnerschaft immer schlechtere Noten. Nach zwölf Monaten teilte die Wissenschaftlerin die Gruppe neu ein. Die eine Hälfte sollte weiter den Zustand der Ehe beschreiben, der anderen Hälfte gab sie eine zusätzliche Anweisung: sie sollten versuchen, ihre Auseinandersetzungen aus einem anderen Blickwinkel zu beschreiben – sozusagen aus der wohlwollenden Perspektive auf eine Fliege an der Wand. Die Wirkung war erstaunlich: Im weiteren Verlauf der Studie blieb die Zufriedenheit der Paare, die eine neue Perspektive suchten, konstant, während es in der anderen Gruppe weiterhin stetig bergab ging. Was lernen wir daraus? Ein bisschen Abstand kann im Alltag manchmal durchaus hilfreich sein – trotz dieser leidigen Abstandsregeln allüberall. So isch no au wieder.