Liebe Lesende,
es naht die hohe Zeit der Fröhlichkeit. Alles soll perfekt sein zum Fest der Feste: der Baum wie jedes Jahr bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet und statisch abgesichert. Der Braten auf den Punkt, die Spätzle von Hand geschabt, Geschenke verpackt als wäre jedes einzelne davon ein Kunstwerk. Wobei es natürlich auf den Inhalt ankommt und da sind die wahren Botschaften wie in jeder Form der Kommunikation gerne auch mal zwischen den Zeilen.
Was in drei Engelsnamen soll man Tante Betty schenken, die bekannt ist für hängende Mundwinkel? Schon wieder ein Gutschein in genau der Höhe ihres jährlichen Mitbringsels in Gestalt eines wiederverwendbaren Umschlags, in welchem sich ungeachtet jeder Inflation seit der Umstellung auf die neue Währung exakt 50 Euro befinden? In der Tat sind Präsente zum großen Familienfest mitunter ein Fingerzeig. Vorsicht bei allzu großen Pferden, wussten schon die alten Trojaner. Da kann noch was nachkommen. Einiges, was einem lächelnd überreicht wird, könnte womöglich unangenehm nachwirken. Das Lichashemd lässt grüßen. Anders als die Textilien von Olymp, die als vergleichsweise ungefährlich gelten, war für Herakles das in der griechischen Mythologie vom Diener Lichas als Geschenk der eifersüchtigen Herzdame überbrachte Hemd buchstäblich die Hölle. Das besondere Stück war mit reichlich Gift durchtränkt, so dass es sich fest mit seiner Haut verband und ihm das Fleisch abriss. Uiuiui. Dagegen ist es bei uns trotz aller Unbilden regelrecht friedlich.
Überhaupt, finde ich, tut es dem Fest gut, wenn Kinder sich seiner auf ihre Weise bemächtigen. Ihre Interaktion mit dem Jesuskind kann herzerfrischend weihnachtlich sein. Plötzlich spielen sie mit der selbst gebauten Krippe ihre ganz eigene Geschichte. Nichts ist wirklich perfekt, und genau das macht es so perfekt. Niemand stört sich daran, dass die alten Holzfiguren nicht mehr komplett sind. Es gab Verluste in den letzten Jahren und auch einige Unfälle. Die Kinder hatten Josef auf den Kaminofen gelegt, damit er nicht friert. Seitdem hat der Ofen einen veritablen Fleck, und der Josef sieht aus wie Kojak. Er hat keine Haare mehr, und sein Mantel ist schwarz.
Auch mit dem Jesuskind sieht es nicht wirklich gut aus. Es ist verschwunden. Das war öfter der Fall bei früheren Festen, und meistens ist es dann eines Tages hinter dem Sofa aufgetaucht. Die Kinder stellen das Geschehen von Bethlehem unverzagt nach, und je länger sie das tun, desto multikultureller erscheint ihre Weihnachtsgeschichte. Zwischenzeitlich liegt der Kapitän vom Playmobilboot in der Krippe. Der passt da rein. Hinter dem Christkind vom Boot stehen zwei Ochsen, drei Schafe und ein Pferd, das wiehert, wenn man auf einen Knopf drückt. Die Maria wiehert nicht. Sie sitzt in einem roten Cabrio, damit sie es leichter hat. Daneben stehen der Kojak-Josef und ein Tyrannosaurus Rex. Der überragt alle. Bewacht wird er von drei Königen. Der Urkönig hat die weite Reise von der Bühne leider nicht überstanden. Er wurde ausgetauscht durch einen reitenden Ritter. An seiner Seite ist der heilige Batman, was den Vorteil hat, dass der Kapitän in der Krippe nicht einer Hungerattacke des Tyrannosaurus zum Opfer fällt, weil der Batman das nicht möchte.
Ist das nicht das wahre Weihnachten? Ein bisschen singen, gut essen, auch wenn nicht alles tipptopp ist? Ein paar alte Geschichten aufwärmen, den Kindern zusehen, wie sie aus sich heraus die Botschaft leben, die alles überstrahlt? Im Gegensatz dazu stehen weit verbreitete Geschenke-Orgien, die in der Regel damit beginnen, das bereits im Oktober persönliche Bestellungen bei den Lieben aufgegeben werden, die dann später unterm Baum „abgewickelt“ werden, als wäre der Schenkende eine Art Paketbote von Amazon. „Aber wir packen immerhin mit Umweltpapier ein“, ruft das Gewissen trotzig dazwischen und überhaupt haben wir darauf geachtet, dass der Lachs dieses Jahr aus Wildbeständen kommt. Na ja.
Vielleicht sollten wir es eher mit Hans im Glück halten, der erst viel tauschte und später dann, als ihm alles abhanden gekommen war, erleichtert feststellte: „So glücklich wie ich, gibt es keinen Menschen unter der Sonne.“ Die Kinder vor der Krippe jedenfalls brauchen nicht allzu viel, um happy zu sein. Sie machen was aus dem, was da ist! Über ihrem sakralen Ort neben dem Familien-Tannenbaum wölbt sich ein schlichtes Dach aus Baumrinde, das gehalten wird von einer knallbunten Säule aus Legosteinen. Man darf nicht an sie stoßen, sonst bricht alles zusammen, und die Maria wird aus ihrem Cabrio geschleudert, und der Kapitän landet unter dem Saurier. Da verstehen die Kinder keinen Spaß. Ihr Krippenspiel ist ihnen heilig.