Liebe Lesende,
die Zeiten ändern sich und mit ihnen das Vokabular. Das lässt sich nicht zuletzt auch am Gegenwort-Wörterbuch ablesen. Laut und leise stand da früher, groß und klein, dick und dünn, hungrig und satt – und eben auch positiv und negativ. Letzteres hat sich mit der Pandemie verändert. Das neue positiv ist jetzt negativ. Das wird jeder bestätigen können, der nach einem Corona-Test auf seinen Befund wartet und bei Eingabe des Geburtsdatums als Passwort angespannt hofft, als „negativ“ zertifiziert zu werden.
Noch manches andere hat uns diese Pandemie beschert, viel Leid und viele Sorgen, wobei man sich, wenn man nicht unmittelbar betroffen ist, durchaus bemühen kann, im ganzen Wahnsinn auch die eine oder andere positive Note zu entdecken. So tragen wir seit zwei Jahren Masken, die den aufhübschenden Nebeneffekt haben, dass sie das Doppelkinn leidlich verdecken oder uns hinterm Steuer unkenntlich machen, wenn der versteckte Verkehrsblitz uns erfasst hat. Auch bei Demonstrationen gibt es jetzt kein Vermummungsverbot mehr, denn die Schnuten-Pullis sind Standard geworden. Sie schützen im Übrigen nicht nur vor Viren, sondern auch vor den Plaudertaschen auf dem Marktplatz. Smaltalker mit feuchter Aussprache lassen sich so ein wenig auf Abstand halten. Dafür brauchte es früher Kopfhörer, auf die man zeigen konnte. „Schau, ich höre Musik und möchte nicht gestört werden!“ Das geht jetzt einfacher. Maske auf. Social Distancing leicht gemacht.
Nebenbei trainieren die Dinger auch noch die Lungen, weil man durch den Mundschutz ständig ansaugen muss. Zudem fällt es jetzt leichter, sich in der Schlange vor dem Bäcker mal politisch unkorrekt den Kropf zu lehren. Sieht ja keiner die Schamröte im eigenen Gesicht. Und wenn man eine Einzahlung bei der örtlichen Bank vornimmt, ist das auch ganz anders als früher. Was waren das für Zeiten, als die Maskierten noch Geld abhoben und sich dann mit quietschenden Reifen aus dem Staub machten. Heute bringen wir wie selbstverständlich maskiert unser Erspartes zur Bank.
Manchmal taugen Masken auch dafür, sich für einen kurzen Moment besser zu fühlen. Das ist mir neulich passiert, als ich zum Arzt ging, um einen PCR-Test zu machen. Der Doc hat dafür eine Garage hergerichtet. Erst wenn die Probanden vollzählig sind, kommt er eiligen Schrittes vermummt wie 007 in Moonraker aus der Praxis, um zur stochernden Tat zu schreiten. An jenem Morgen war außer mir nur ein älterer Herr in feinem Zwirn in der Garage zugegen. Ich saß durch eine Wand getrennt und wartete auf den Arzt. Der Mann füllte ein Formular aus und trug eine Maske. Seine Brille war leicht beschlagen. Plötzlich sagte er zu mir: „Herr Doktor, ich habe alles ausgefüllt. Wir können den Test machen!“
Für einen Moment dachte ich an Mr. Bean, den Komiker. Der hätte vermutlich ein Stäbchen genommen und dem Mann lustvoll ins Ohr gesteckt, um sich auf diese Weise mit feinem Sadismus ein bisschen für die erduldeten Nasenreinigungen bei vielen Tests zu rächen, bei denen man als Geprüfter das Gefühl hat, das Stäbchen wird in die Nase eingefügt und oberhalb der Fontanelle dann wieder rausgezogen. Ich habe am Ende darauf verzichtet, meinen kleinen persönlichen Extremismus auszuleben – und dem Mann gesagt, dass ich selbst nur Patient sei. Er war dafür dankbar.
Vielleicht hätte ich doch Mr. Bean spielen sollen? Es kam nämlich zu meinem großen Erstaunen der Befund: positiv! Dabei war ich kurz zuvor erst mit der dritten Impfung bedacht worden. So ging ich meines Wegs, geradewegs in die Absonderung. So etwas ist nicht lustig. Geimpft, geboostert und gefrustet. Während meine Freunde im kleinen Kreis am Wochenende unter freiem Himmel das Oktoberfest nachstellten – „ozapft is“ – blieb ich im trauten Heim und richtete hüstelnd zur schnelleren Genesung ein Multivitamin-Festival aus, um mich den Viren entgegenzustemmen – „Osaft is“. Während der Quarantäne war ich zeitweise gemütsmäßig negativ drauf, hatte aber immerhin einen einigermaßen milden Verlauf, was dann wiederum ganz gut war, also durchaus: positiv!