Der Stammtisch an sich ist nichts Verwerfliches. Er wird bundesweit immer wieder zitiert und hat es nebenbei auch ins junge Polit-Lexikon geschafft, wo man nachlesen kann, dass es seit Ende des 18. Jahrhunderts guter Brauch war, sich zu geselligen Runden in Gastwirtschaften, Weinhäusern und Kaffeehäusern zu treffen. „Neben dem geselligen Beisammensein mit Trinken, Karten- und Brettspielen ging es am Stammtisch oft um politische und philosophische Diskussionen. Diese waren beliebt, denn jeder konnte hier in deutlichen und gelegentlich auch in kräftigen Worten seine Meinung über die politische Lage und die Regierung ausdrücken.“ Die Herrschenden seien häufig nicht sehr erfreut über besagte Reden gewesen, erläutert das Lexikon. Wie sind wir jetzt gleich ins Plaudern gekommen? Ach ja: Das Aussprechen von Wahrheiten zum Unbehagen der Regierenden!
Derzeit regieren in Berlin Grüne, Rote und Liberale. Vor allem die Grünen tun sich erkennbar schwer mit dem, was von den Stammtischen, insbesondere den bayerischen, zu ihnen durchdringt. Dabei wäre es vielleicht durchaus lehrreich, den Stammtischlern zuzuhören, die meistens keine bis ins letzte Detail mit der Kommunikationsabteilung abgewürzte Brühe servieren, sondern eher auf klare Suppe stehen. Fein geschnibbelten Schnittlauch mögen dort viele nicht. Denn der schwimmt auf allen Suppen gleich. Am Stammtisch kann man viel lernen über diese Republik – auch wie man die Wähler wieder von sich überzeugen kann.
Neulich hat Philip Eppelsheim im weitesten Sinn über Stammtische einen tollen Beitrag in der FAZ veröffentlicht. Darin heißt es: „Während die AfD daran arbeitet, die Grenzen des Sagbaren zu erweitern, arbeiten linke Politiker und Journalisten daran, die Grenzen des Sagbaren einzuengen. Offenkundige Missstände sollen nicht mehr thematisiert werden. Statt über Islamisten, über die Herkunft von Gewalttätern, über Silvesterkrawalle, über Parallelgesellschaften oder über islamistischen Antisemitismus zu sprechen und die Probleme anzugehen, wird weggeschaut. Die Wirklichkeit hat sich den grünen und roten Träumen anzupassen.“
Die Bundesregierung tut gut daran, wieder genauer hinhören. Sie sollte es vermeiden, den Leuten ständig zu sagen, was sie hinzunehmen, auszuhalten und zu bewältigen hätten. Und sie sollte am allermeisten vermeiden, ständig so genannte Brandmauern hochzuziehen, die dafür stehen, bis wohin jemand denken und reden darf. Alles, was darüber hinaus geht, so wird politisch gestreut, gehe gegen alle in dieser Gesellschaft. Was gegen alle in dieser Gesellschaft geht, steht in den Gesetzbüchern. „Wenn man so will, überreichten die Linken den Rechtspopulisten die Wähler auf dem Silbertablett“, schreibt Eppelsheim in der FAZ. „Die konnten nämlich mit ihrer Wahl nicht nur ihren Unmut über die Migrationspolitik kundtun, sondern den Moralisierern auch noch den Mittelfinger zeigen. Angesichts dessen kann man wahrscheinlich froh sein, dass es nicht schon überall im Land zu sächsischen oder thüringischen Verhältnissen gekommen ist.
Wenn Grünen-Politiker sich selbst ein bisschen in dem üben wollen, was sie den Leuten gerne abverlagen, also im „Aushalten“ und „Hinnehmen“, dann sollten sie sich vielleicht öfter an die Stammtische begeben, wo gewiss oft Mist geredet, manchmal aber auch die Wahrheit sehr offen ausgesprochen wird. Wegzuhören oder neue Brandmauern zu konstruieren, ist wenig hilfreich. Das nützt nur jenen, die seit langem ein Gefühl bedienen, welches stärker geworden ist in dieser Gesellschaft, auch bei jenen, die nicht an Stammtischen hocken. Das Gefühl, denken zu sollen, was man ihnen sagt, und sagen zu sollen, was anderswo gedacht wird.