Bücher sind die neuen Yoga-Studios

Ist es nicht seltsam? Da nimmt man sich ein Buch zur Hand, fängt an zu lesen und plötzlich schweift der Blick hinüber zum Smartphone. Ob wohl jetzt gerade eine Nachricht eingegangen ist, die vermeintlich oder tatsächlich wichtig sein könnte? Das Unterbewusstsein regt sich. Man liest weiter, aber das Smartphone hat, einem unsichtbaren Tintenfisch gleich, längst die Arme ausgebreitet. Eine seltsame Kraft zieht uns weg von den Zeilen des Buchs, hinein in die elektronische Welt mit ihren Lockungen, an die wir uns schon so viele Jahre gewöhnt haben. Seit es Smartphones gibt, fällt das Lesen schwerer. Lesen ist eine Tätigkeit, bei der wir nichts anderes gleichzeitig tun können. Und genau das macht es für uns Heutige mittlerweile so schwierig, uns ganz und gar einem Buch zu widmen. Wenn wir lesen, können wir im Gegensatz zum Podcast nichts anderes tun. Das Buch erfordert unsere ganze Aufmerksamkeit. Wie sind wir jetzt gleich ins Plaudern gekommen? Ach ja: neue und alte Medien!

Kürzlich hat mir ein Freund erzählt, dass er seine Kinder nicht mehr durch stimmliches Rufen zum Abendessen bittet, sondern lieber eine WhatsApp Nachricht ins Kinderzimmer absetzt. Das schone die Stimmbänder und erhöhe nebenbei die Wahrscheinlichkeit, dass die Jugend tatsächlich zum Abendessen komme. So weit sind wir also schon. Die Kids sitzen oben in ihren Zimmern, hören Musik, tippen nebenbei Nachrichten an ihre Freunde, schauen sich irgendwelche lustigen Filmchen an, und zwischendurch ruft dann Papa mittels WhatsApp zum Abendessen. Verrückte Welt.

Es ist eine Zeit der Gleichzeitigkeit, in der wir uns durch die Zeit bewegen. Yoga-Studios boomen, in denen wir oft mühsam über Jahre lernen, wieder etwas zu tun, dass wir komplett verlernt haben, nämlich still zu sitzen. Ähnlich verhält es sich beim Lesen. Das gute alte Buch zieht unsere auf Unterbrechung konditionierten Gedanken in einen Stoff, dem wir uns entweder ganz oder gar nicht widmen können. Leider schwindet derzeit die Lust am Lesen. Allein zwischen 2012 und 2016 gingen dem deutschen Buchhandel 6,1 Millionen Buchkäufer verloren. Das entspricht einem Käuferverlust von 17 Prozent in dieser Zeitspanne. Zu diesem Ergebnis kam eine vom Börsenverein Deutscher Buchhandel beauftragte Studie. Weniger als die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland tritt überhaupt noch als Buchkäufer in Erscheinung. Möge das Buch bald wieder einen Boom erleben. Bücher sind die Yoga-Studios von Vorgestern. Sie bringen uns zur Ruhe und zum Hinhocken. Nebenbei lässt uns dieses archaische Druckwerk, wenn wir nur lange genug üben, das omnipräsente Smartphone für zwei Stunden vergessen. So gesehen ist das Buch durchaus ein sehr zeitgenössisches Medium. Höchste Zeit, dass wir es wieder neu entdecken – und uns gleich mit!